Mit dem Hashtag #Muttertät möchten unsere beiden Gastautorinnen Natalia Lamotte und Sarah Galan – die beiden Gesichter hinter „Schwesterherzen Doulas“ – eine Bewegung ins Leben rufen, die aufmerksam machen soll auf diese massiven hormonellen, körperlichen und psychischen Veränderungen, die Frauen erleben, wenn sie ein Baby bekommen. Ein Prozess, der Jahre dauert, vergleichbar mit der Pubertät.
Von Natalia Lamotte und Sarah Galan
Wer erinnert sich nicht an die Zeit, in der sich der Körper stark veränderte, die Laune Achterbahn fuhr und wir uns ausgerechnet mit guten Freunden, den Eltern oder dem/r Liebsten oft in die Haare bekamen? Die Pubertät, richtig? In diesem Fall möchten wir ein anderes Phänomen beleuchten: Die „Muttertät“, ein von uns erfundener bzw. geprägter Begriff (analog zu „Matrescence like adolescence“).
Begrifflich an die Pubertät angelehnt, ist die „Muttertät“ aktuell noch sehr wenig medizinisch erforscht. Noch weniger ist sie allerdings der Gesellschaft geläufig. Oder habt ihr diesen Begriff schon mal gehört? Ihre Auswirkungen hingegen sind den meisten Frauen sehr wohl vertraut. Sie bestehen aus den folgenden Hauptmerkmalen, die, unterschiedlich stark ausgeprägt, bei und nach jeder Schwangerschaft auftreten:
- Veränderungen in diversen Lebensbereichen
Die Schwangerschaft sowie die Zeit danach sind geprägt durch viele Veränderungen, Sinnfragen, (Neu)Orientierungen, an deren Ende eine neue Identität steht. Natürlich begegnen wir im Laufe unseres Lebens immer wieder Wendepunkten, auch ohne Kinder zu bekommen. Ein Umzug, ein Arbeitsplatzwechsel, Schicksalsschläge etc. – das alles sind Momente starker Veränderungen. Bei der Mutterschaft liegt der Unterschied aber darin, dass das Ganze durch eine starke Hormonflut ausgelöst wird und oft psychische, physische, soziale, spirituelle wie auch berufliche Veränderungen der Persönlichkeit mit sich bringt. Es ist also eine multidimensionale Transition. Bereits in der Schwangerschaft verändern Frauen ihren Fokus und ihre Freizeitgestaltung, abhängig von ihrem gesundheitlichen und mentalen Zustand. Diese Veränderungen betreffen nicht selten auch den Freundeskreis. Spätestens wenn das Kind da ist, werden existierende Freundschaften oft neu bewertet, aber auch neue Verbindungen entstehen. Zudem verändert sich mit jedem neuen Familienmitglied das vorherige Gefüge der Familie. Das betrifft die Kernfamilie, aber auch die Beziehungen zu den eigenen Eltern, den jeweiligen Schwiegereltern und den Geschwistern. Viele Mütter spüren außerdem den Wunsch nach einer beruflichen Veränderung. Sie hinterfragen ihre bisherige Tätigkeit und verringern häufig ihre Arbeitszeiten, wenn sie an den Arbeitsplatz zurückkehren. Manche gehen einen Schritt weiter, machen sich selbstständig oder ändern komplett ihr Fachgebiet. Nicht selten betreffen diese Sinnfragen auch den Bereich der Spiritualität. Es gibt Frauen, die sich durch die Mutterschaft zur Religion zurückbesinnen oder eine andere Art der Spiritualität für sich entdecken. Für jede Frau und bei jeder Schwangerschaft aufs Neue kann diese Art der Veränderung unterschiedlich stark und sehr individuell ausfallen oder empfunden werden. Manche bemerken nur Veränderungen in ihrer Beziehung zum Partner, andere haben besonders stark mit ihrem neuen Körper zu kämpfen, merken dafür aber keinen Wunsch nach Wandel in ihrem beruflichen Umfeld. Unabhängig davon, in welchem Ausmaß der Identitätswandel stattfindet – denn er wird stattfinden – gibt es keinen Weg zurück. So wie ein junger Erwachsener nicht wieder zum Kind wird, wird auch eine Mutter nicht wieder zurück in ihr „altes Ich“, in ihr vorheriges Leben, zurückkehren. Diese Entdeckung kann einerseits traurig sein, aber andererseits auch wunderschön. - Ambivalente Gefühle
Mutterschaft besteht sehr häufig aus dem Empfinden von widersprüchlichen Gefühlen. Wir wollen das Kind nah bei uns haben, gleichzeitig wünschen wir uns jedoch Zeit für uns. Einerseits macht uns kaum ein Mensch glücklicher, andererseits kann uns niemand so herausfordern wie unser eigenes, geliebtes Kind. Es kann sich ziemlich unangenehm anfühlen, derartige ambivalente Emotionen zu durchleben. Oftmals auch noch mehrmals täglich mit nur wenigen Minuten Abstand dazwischen. Es scheint, als hätte sich die Zufriedenheitsskala neu ausgerichtet. Die Höhepunkte sind höher, als in der Zeit vor dem Kind. Aber dafür sind die Tiefpunkte auch tiefer. Hinzu kommt das schlechte Gewissen, weil man nicht durchgehend glücklich und dankbar ist, obwohl man das größte Glück auf Erden geschenkt bekommen hat. Woher kommen diese Erwartung und dieser Druck? Warum ist es nicht öffentlich bekannt und akzeptiert, dass diese intensive Mutter-Kind-Beziehung ihre ganz normalen Höhen und Tiefen hat? Unsere klare Empfehlung lautet jedenfalls, diese Gefühle ehrlich zu benennen und zu akzeptieren. Es ist ganz normal und gesund, sich so zu fühlen. Und es geht sehr vielen Frauen so. Elternsein ist nun mal die meiste Zeit nicht einfach nur schwarz oder weiß, nicht gut oder schlecht, sondern sowohl das Eine als auch das Andere. - Schuld und Scham – bin ich als Mutter „gut genug“?
Viele Frauen streben oft nach einem Mutterbild, das grundsätzlich unrealistisch perfekt ist. Sie glauben, eine gute Mutter kann nur sein, wer immer top gelaunt, glücklich und zufrieden ist und die Bedürfnisse des Kindes immer an erste Stelle setzt. Dies wird uns insbesondere auf Social Media vorgelebt. Diese perfekte Mutter hat wenig eigene Bedürfnisse, ist durchgehend dankbar für ihr Leben mit Kind und hat die beste Zeit ihres Lebens. Sie hat es sich ja schließlich auch selbst ausgesucht und wollte doch Mutter werden! Vergleiche mit dieser perfekten und vor allem unrealistischen Mutterfigur führen dazu, dass Frauen sich NIE, also zu keinem Zeitpunkt, gut genug fühlen können. Es suggeriert, dass diese (wohlgemerkt oft unbekannten) anderen Frauen besser als Mütter geeignet zu sein scheinen als man selbst. Mütter schämen sich oft für ihre Gefühle. Sie zweifeln an sich, leiden leise und versuchen sich einfach zusammenzureißen und weiterzumachen, zu funktionieren.
Muttersein wird in der Gesellschaft leider völlig unrealistisch dargestellt und daher sind auch die Erwartungen an Mütter unrealistisch. Das Verständnis für die enormen Anforderungen, die an eine Mutter gestellt werden, scheint erst zu entstehen, wenn man es selbst durchlebt hat. Vergleichen wir dies mit Schicksalsschlägen, so fällt es den meisten Menschen nicht sehr schwer, sich in Betroffene hineinzuversetzen und Empathie zu zeigen, auch wenn wir die gleiche Erfahrung vielleicht noch nicht gemacht haben. Wir wissen, dass diese Situationen sehr schmerzen oder erschöpfen können. Wir unterstützen denjenigen, indem er schwach sein darf. Auf das Muttersein lässt sich dies auch übertragen – wir können etwas verändern und helfen, indem wir laut werden und bewusst mehr über die echten Gefühle und Herausforderungen von Müttern berichten, indem wir Müttern mehr Mitgefühl und Verständnis entgegenbringen, mehr Mitgefühl von ihren Familie, von der gesellschaftlichen Umgebung, aber auch die Mütter für sich selbst.
Die signifikante Veränderung im Leben einer werdenden Mutter, der Identitätswandel, hat eine Ursache. Es ist die hohe Konzentration an bestimmten Hormonen (vor allem Progesteron und Östrogen), die dafür sorgen, dass sich die Gehirnstruktur nachweislich verändert. Elseline Hoekzema, eine Neurowissenschaftlerin an der Leiden Universität in den Niederlanden, konnte 2017 mit Hilfe von MRT-Bildern nachweisen, dass sich die Struktur des Gehirns einer werdenden Mutter langfristig so stark und eindeutig verändert, dass ein Computeralgorithmus anhand von MRT-Aufnahmen zu 100 Prozent richtig erkennen konnte, ob eine Frau bereits Mutter war oder nicht. Es gibt nur eine Phase in unserem Leben, in der eine ähnlich hohe Menge an Hormonen gebildet wird: in der Pubertät. Auch da werden Bereiche des Gehirns neu strukturiert und ungenutzte Nervenverbindungen gelöscht, besonders wichtige hingegen verstärkt. Dieses „Finetuning“ findet bei Müttern vor allem in dem Bereich (der grauen Masse) statt, der für das Einfühlungsvermögen und Sozialverhalten zuständig ist. Es wird angenommen, dass dies die Fähigkeiten, sich möglichst gut um das Kind zu kümmern, ermöglichen und verbessern soll.
Die wissenschaftliche Definition und Benennung dieser Übergangsphase von einer Frau zur Mutter, die laut Forschung mindestens zwei Jahre andauert, sollte dazu beitragen, bessere Unterstützung für Mütter anzubieten. Sowohl die Pubertät, als auch die Muttertät sind erwiesenermaßen Phasen, in denen eine besonders hohe Anfälligkeit für psychische Erkrankungen besteht. Das Gefühl, ständig zu versagen, sich einsam zu fühlen und kein Verständnis zu bekommen, kann das Auftreten von postpartalen Depressionen begünstigen.
Daher nochmals der Aufruf: Lasst uns offen damit umgehen und darüber sprechen! Gewusst und gefühlt haben wir Frauen es ja schon immer, aber jetzt hat das Kind endlich einen Namen: MATRESCENCE, der Prozess des Mutterwerdens oder eben auf deutsch: Die Muttertät. Geboren wird nicht nur das Kind, sondern (jedes Mal wieder) auch die Mutter.
Schwesterherzen Doulas, Natalia Lamotte und Sarah Galan